DER BRUDER UND DIE BRUDERSCHAFT NACH DER ORDNUNG MELCHIZEDEKS 

FUNFTER TEIL

DAS MYSTERIUM VON GOLGATHA
 

 

 

“Toren glauben sich groß, wenn sie andere übersteigen können, der Weise aber macht sich klein, damit er sich selbst übersteige.”

 

At den Zeiten des Kung fu tse lebte im Reiche der Mitte ein wundersamer Weiser, den sie Lao tse nannten.

Kung fu tse, der große Lehrer der Gesetze des glücklichen Lebens, hörte von ihm und machte sich auf, ihn zu besuchen. Von diesem Besuch zurückgekehrt, ging Kung fu tse drei Tage lang schweigend umher, so daß seine Schüler sich sehr verwunderten.

Tseu Kong aber machte sein Herz weit und frug den Lehrer, weshalb er unausgesetzt schweige?

Darauf antwortete Kung fu tse und sprach:

„Wenn ich bemerke, daß ein Mensch sich seiner Gedanken bedient, um mir wie der Vogel im Fluge zu entwischen, so bediene ich mich meiner Gedanken, wie man sich eines Pfeiles bedient, den man vom Bogen schnellt.

Unweigerlich treffe ich einen solchen Menschen und werde seiner Meister. —

Will er mir aber entwischen, wie ein hurtiger Hirsch, so verfolge ich ihn wie ein geschickter Jagdhund, hole ihn sicher ein und werfe ihn nieder. —

Will er mir entwischen wie ein Fisch, der sich in die Tiefe gleiten läßt, so werfe ich meine Angel aus, fange ihn und bringe ihn in meine Gewalt. —

Ein Drache aber, der in die Wolken steigt und in der Luft schwebt, — den kann ich nicht verfolgen!

Ich habe Lao tse gesehen und er ist wie der Drache!

Als er sprach, blieb mein Mund offen und ich vermochte ihn nicht wieder zu schließen. —

Meine Zunge hing mir vor Erstaunen aus dem Munde und ich konnte sie nicht zurückziehen. —

Meine Seele aber wurde aufgeregt und ist noch nicht wieder ruhig geworden!”

Diese wenigen, in den chinesischen Schriften erhaltenen Worte sprechen deutlich genug von dem ungeheuren Eindruck, den die geistige Weisheit Lao tses auf Kung fu tse machte, der wahrlich auch, auf seine Art, ein Weiser war, aber den Bereich des Intellekts allein beherrschte, während jener hoch über allem intellektuellen Wissen seine geistige Heimat fand. —

Es wird berichtet, Lao tse sei in hohem Alter, gegen das Ende seines Lebens, aus seinem Lande gegangen, — nach Westen zu, — dorthin, von wo er einst seine Lehre erhalten habe…

Im „Tao te king”, das ihm zugeschrieben wird, darf man den wesentlichen Niederschlag seiner Lehre suchen.

Man hat mit gewissem Recht darauf hingewiesen, wie nahe diese Lehre den Lehren der Pythagoräer und der Philosophie P1atos steht, ja man wollte es wahrscheinlich machen, daß Lao tseaus alter ägyptischer Mysterienweisheit geschöpft habe, und konstruierte einst so die wunderlichsten Zusammenhänge.

Ein Körnchen Wahrheit liegt, wie fast immer in ähnlichen Fällen, allen diesen Mutmaßungen zugrunde, denn Lao tse, der von dem größten weltlichen Weisen seiner Zeit Bestaunte, war einer der wenigen wirkenden Meister jener geistigen Gemeinschaft, die man symbolisch: die „Weiße Loge” nennt, der alle alten Mysterienkulte, der auch Pythagorasund P1atoihr Bestes dankten. —

Während aber diese geistige Gemeinschaft als solche durch alle Jahrtausende hin stets nur in geistiger Weise aus völliger Verborgenheit heraus wirkte, fanden sich doch zu Zeiten, wenngleich äußerst selten, einzelne ihrer Glieder, die „in der Welt” lebten, bereit und willens, auch durch das gesprochene und geschriebene Worthöchste geistige Lehre zu erteilen, und einer dieser Seltenen war eben dieser Lao tse.

Nicht umsonst betont er, daß der Weise sich in seiner Lehre nach Zeit und Umständen richten müsse, denn es war ihm wohl bewußt, daß seine Lehre in seinem Volke und zu seiner Zeit nur verstanden werden könne in einer Ausprägung, die wenigstens bei den damals geistig Eingestellten Geltung zu finden hoffen durfte.

Nach Zeit und Umständen mußte sich noch jeder der ganz wenigen richten, der als ein in der Welt lebendes Glied der „Weißen Loge” Lehre in Worte zu fassen versuchte, und auch jener „große Liebende”, der diese Lehre „die frohe Botschaft” nannte, war nicht weniger seiner Sendung als der Pflicht bewußt, Zeit undUmstände zu beachten, und die Anknüpfung für das Leitseil der Lehre dort zu suchen, wo sicherer Halt dafür zu finden war. Doch, sicherer Halt ist immer zugleich: — Widerstand…

Man wird Leben, Tat und Lehre dieses in seiner Liebe Erhabensten unter denen, die sich die „Leuchtenden des Urlichtes”, die ,,Worte des Wortes” nennen, erst dann in ganzer Größe begreifen, wenn man erfaßt hat, daß auch er Zeit und Umstände weise nützen mußte, und daß er — vielleicht mehr als andere vor und nach ihm — Halt am Widerstand zu finden suchte. —

Es sei mir ferne, frommen Glauben hier zu stören, dem der Meister der Evangelien zum einzigen „Sohne Gottes” ward! —

Wer dieses Glaubens ist und darin Heil zu finden hofft, der darf gewiß sein, daß seine Hoffnung ihn nicht trügt, wenn er des Meisters Lehre in sich Leben schaffen läßt, und daß der Segen, der ihm werden kann, niemals gebunden ist an seine Meinung hinsichtlich der Dinge, die das Erscheinen seines Meisters einst verursacht haben.

Fühlt er sich stark in seinem Glauben, dann lese er getrost, was hier gegeben werden soll und lehne alles ab, was seines Glaubens Wurzeln nicht vertragen können!

Je stärker sein Glaube in Wahrheit ist, desto sicherer wird er aus diesen Eröffnungen neue Kräfte ziehen, denn: „Wer da hat, dem wird gegeben werden, auf daß er in Fülle habe”; — fühlt er sich aber schwach und schwankend, und ist ihm sein Glaube nur eine schwache Tröstung, die dieses Glaubens oft selber zweifelnde Lehrer, zur Pflicht der Belehrung verdammt, zu geben haben, dann lese er lieber nicht weiter, denn es steht auch geschrieben, daß: — „dem, der da nicht hat, auch das noch genommen wird, was er zu haben vermeint”. —

Aus: Das Mysterium von Golgatha pdf Seiten: 10-16